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Fieber im Meer

Temperatur ist einer der wichtigsten Umwelteinflüsse für den Stoffwechsel von Bakterien, Pflanzen und Tieren. Mit steigender Temperatur im Rahmen des globalen Wandels und mit Hitzewellen, wie sie im Sommer 2023 verbreitet auftreten, geht daher auch eine massive Reorganisation des Lebens an Land, in Binnengewässern und im Meer einher. Dabei reagiert vor allem die biologische Vielfalt im Meer sehr stark auf Temperaturveränderung. Das scheint zunächst verwunderlich, weil extreme Temperaturen doch eher im kontinentalen Landklima zu beobachten sind als in den viel weniger variablen Wassermassen des Ozeans. Aber darin liegt auch bereits ein Schlüssel zur Erklärung, denn in Anpassung an die geringere Schwankungsbreite leben Meeresorganismen im Durchschnitt näher an ihrem Temperaturoptimum als Landbewohner, haben also eine geringere Toleranz gegenüber Erwärmung [1]. Daher werden regionale Hitzewellen im Meer, wie wir sie Mitte des Jahres 2023 beobachten, auch zu hoher Mortalität führen, wie man aus vorherigen derartigen Phänomenen ableiten kann [2]. Neben dem Absterben ist das temporäre Ausweichen in kälteren Regionen (höhere Breitengrade, tiefere Wasserschichten) eine weitere typische Reaktion [3].
Dieses Ausweichen lässt sich als Antwort auf den Klimawandel, unabhängig von Hitzewellen, bereits seit Jahrzehnten beobachten, da die Verbreitungsgebiete vieler Meereslebewesen sich nachweislich polwärts verschoben haben [4]. Dieses 'temperature tracking' geschieht bei marinen Organismen generell sogar direkter als an Land, da die Ausbreitung nicht durch Hindernisse wie Gebirge behindert wird [4, 5]. Im Schnitt aller untersuchten Organismen fand eine 2020 veröffentlichte Studie, dass marine Organismen ihre Verbreitung im Mittel um etwa 60 Kilometer pro Jahrzehnt in kältere Regionen verschieben [4]. Negativ wirkt sich dies vor allem auf Lebewesen aus, die stationär gebunden sind, etwa an das Flachwasser der Küste, Untergrund zum Anheften oder Land für Nistplätze. Letzteres trifft zum Beispiel für Seevögel zu, die ihren polwärts ziehenden Beutefischen weiter hinterher fliegen müssen und durch die höhere Belastung geringeren Bruterfolg aufweisen [6].

Eine globale Studie, die von einem Team am Oldenburger HIFMB geleitet wurde, hat jüngst die Verbreitungsdaten von über 33000 marine Arten genutzt, um eine Prognose der biologischen Vielfalt für das Jahr 2100 zu modellieren [7]. Bei einem mittleren Klimaszenario sagen die Autor:innen voraus, dass sich für ein Viertel der Arten der Lebensraum um mehr als 50% reduzieren wird. Besonders negativ betroffen sind demnach tropische Regionen, in denen die Stabilität der Temperatur zu sehr niedrigen Toleranzen führt und keine an noch höheren Temperaturen angepasste Organismen einwandern können. Die polaren Gebiete, die sich deutlich schneller erwärmen als der Durchschnitt, werden viele spezialisierte Arten verlieren, aber Arten aus gemäßigten oder subpolaren Gebieten werden einwandern. Daher nehmen diese Gebiete voraussichtlich lokal sogar an Artenreichtum zu, aber eben Arten aus wärmeren Gebieten. Ein Aspekt, den diese Studie mangels vorhandener Kenntnisse nicht einbauen konnte, ist die Anpassung durch bereits vorhandene genetische Variation oder durch neu entstehende Variation. Die Frage, ob Evolution mit dem rapiden Klimawandel Schritt halten kann, ist für den Erhalt vieler Lebensgemeinschaften essentiell. Bestes Beispiel sind die Korallenriffe, eines der artenreichsten Ökosysteme der Welt, deren Überleben direkt davon abhängt, ob für die riffbildenden Arten temperaturtolerante Varianten existieren, entstehen oder gezüchtet werden können.

Zurzeit stehen wir erst am Anfang der klimawandel-bedingten Veränderung der biologischen Vielfalt. Letztere ist bisher viel mehr durch Ressourcennutzung, Verschmutzung und Habitatzerstörung beeinträchtigt [8], aber die dadurch fehlenden 'unbelasteten' Rückzugsorte und verringerten Populationen reduzieren das erforderliche Potenzial zur Anpassung an den Klimawandel.
Wenn wir uns die Klimafolgeneffekte nicht global, sondern über Zeit an einem Standort wie dem Wattenmeer oder der deutschen Bucht anschauen, stellen wir oft fest dass die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften sich rapide ändert aber dass die Frage eines Zu- oder Abnahme des Artenbestandes gar nicht so leicht zu beantworten ist bzw es sogar teilweise Zuwächse gibt. Wie lässt sich das mit dem düsteren globalen Bild vereinbaren? Auch hier haben eigene Studien jüngst Klärung verschafft, denn die Einwanderung neuer (z. B. wärmeliebender) Arten geht vergleichsweise schnell, es bedarf oft nur weniger Individuen. Lokales Aussterben dauert demgegenüber Generationen, und ist nur der Endpunkt einer langen negativen Dynamik. In einer sich verändernden Umwelt werden wir also die Gewinner vor den Verlierern sehen, weswegen wir für einen oft bis zu Jahrzehnte langen Zeitraum eine zu positive Sicht auf die Biodiversitätsveränderung haben [9].
Das Argument, dass es ja auch in der geologischen Geschichte klimabedingte Massenaussterben gegeben hat, ist hierbei eine Täuschung. Diese 'plötzlichen' Veränderungen haben sich über lange Zeiträume abgespielt, so ist es nicht das Ausmaß der heutigen Veränderung, das Sorgen bereitet, sondern die Geschwindigkeit [8].

In den letzten 12 Monaten sind für den Schutz der Meeresbiodiversität wichtige Weichen gestellt worden; das sogenannte Kunming Montreal Abkommen ('Global Biodiversity Framework') sowie das Abkommen zur Biodiversität der hohen See (BBNJ) fordern 30% der Fläche an Land und im Meer für den Naturschutz. Aber auch hier ist ein sorgfältiger Blick erforderlich. Flächenschutz ist nur effektiv, wenn auch schädliche Eingriffe reduziert werden und der zukünftige Klimawandel bei der Gestaltung der Schutzgebiete einbezogen wird. Außerdem kann der Schutz nur greifen, wenn schädliche Einflüsse vermindert werden, da diese nicht an den Grenzen eines Schutzgebietes haltmachen.
In vielen Diskussionen erscheint der Schutz der biologischen Vielfalt als nachrangig, besonders im Hinblick auf das so fern wirkende Meer. Aber die biologischen Leistungen des Ozeans sind für das menschliche Wohlbefinden essentiell, vom Sauerstoff, den die Algen produzieren, bis zur Nahrung, die wir dem Meer entnehmen, vom Küstenschutz bis zur Klimaregulation. Die Tatsache, dass die Vielfalt des Lebens das Besondere am Planeten Erde ist, sollte deren Bewahrung zur ersten Priorität machen.

Helmut Hillebrand ist Professor für Planktonökologie am Institut der Chemie und Biologie des Meeres der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, seine Arbeitsgruppe beschäftigt sich vor allem mit der Biodiversität der in der Wassersäule schwebenden Organismen (= Plankton) und wie diese auf den Globalen Wandel reagieren. Seit 2017 ist er auch Direktor des Helmholtz Instituts für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg [HIFMB], das sich mit Forschung zum Verständnis des Biodiversitätswandels und dem Naturschutz im Meer beschäftigt.

Quellen

[1] Pinsky, M.L., Eikeset, A.M., McCauley, D.J. et al. Greater vulnerability to warming of marine versus terrestrial ectotherms. Nature569, 108–111 (2019).

[2] Smale, D.A., Wernberg, T., Oliver, E.C.J. et al. Marine heatwaves threaten global biodiversity and the provision of ecosystem services. Nat. Clim. Chang. 9, 306–312

[3] Jacox, M.G., Alexander, M.A., Bograd, S.J. et al. Thermal displacement by marine heatwaves. Nature 584, 82–86 (2020).

[4] Lenoir, J., Bertrand, R., Comte, L. et al. Species better track climate warming in the oceans than on land. Nat Ecol Evol 4, 1044–1059 (2020).

[5] Antão, L.H., Bates, A.E., Blowes, S.A. et al. Temperature-related biodiversity change across temperate marine and terrestrial systems. Nat Ecol Evol 4, 927–933 (2020).

[6] McDonald, A., Heath, M.R., Edwards, M., Furness, R.W., Pinnegar, J.K., Wanless, S., Speirs, D.C. and Greenstreet, S.P.R. (2015) Climate-driven trophic cascades affecting seabirds around the British Isles. Oceanography and Marine Biology: an Annual Review 53: 55-79.

[7] Hodapp D., Roca I.T., Fiorentino D., Garilao C., Kaschner K., Kesner-Reyes K., Schneider B., Segschneider J., Kocsis Á.T., Kiessling W., Brey T. & Froese R. (2023). Climate change disrupts core habitats of marine species. Global Change Biology, 19, 3304-3317.

[8] IPBES (2019). Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science- Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. In: (eds. Brondizio ES, Settele J, Diaz S & Ngo HT). Intergovernmental Science- Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services Bonn, Germany.

[9] Kuczynski L., Ontiveros V.J. & Hillebrand H. (2023). Biodiversity time series are biased towards increasing species richness in changing environments. Nature Ecology & Evolution, 7, 994–1001.

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