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Unsere Welt ist im Umbruch, gar im „Dauerkrisenmodus“ – aber seit wann eigentlich?

Unsere Welt ist im Umbruch, gar im „Dauerkrisenmodus“ – aber seit wann eigentlich?

Seit Nine-Eleven 2001? Seit der Bankenkrise 2008? Seit dem Erstarken der AfD und anderer rechtspopulistischer und -extremer Parteien in Deutschland/Europa? Oder seit der „Klimawandel“ zur „Klimakatastrophe“ wurde (in Afrika also seit mehr als 20 Jahren, bei uns vielleicht seit der „Ahrtal-Flutkatastrophe 2021)? Schwer zu sagen – und vielleicht ist es auch gar kein neues Phänomen, in der Krise zu leben? Wer erinnert sich noch an die gewaltigen Herausforderungen der „Trümmergeneration“ mit Aufnahme von mehr als 10 Millionen Vertriebenen in Nachkriegsdeutschland? An die „Ölkrise“ mit Fahrverboten(!) 1973, an RAF-Terror im „Deutschen Herbst“ 1977 oder die Zeit der Massenarbeitslosigkeit? Auch die Wiedervereinigung 1989/90 ging mit veritablen Veränderungen für uns Bürger*innen einher.

Sind also Umbruch und Veränderung möglicherweise der Normalzustand? Trotzdem scheint das Gefühl der Verunsicherung in der heutigen Zeit eine andere Qualität anzunehmen. Die heftigen Angriffe rechtsextremer Parteien auf die etablierten Demokratien (nicht nur) in der EU, die Coronakrise mit massiven staatlichen Eingriffen in unser Leben, die Kriege in der Ukraine und Israel/Palästina sowie die unübersehbare Dringlichkeit, die Ursachen und Folgen der Klimakatastrophe einzudämmen, überlagern sich in der öffentlichen und privaten Wahrnehmung. Verunsicherung, wirtschaftliche Abstiegsängste und eine immer extremere Polarisierung der politischen Debatten und Milieus sind die Folgen, die wir gerade überall erleben.

Es wird deutlich, dass wir – alle gemeinsam – diesmal wirklich etwas verlieren können. Das Aufstiegsversprechen, das seit Generationen „Common Sense“ unserer Gesellschaft war, steht ebenso in Frage wie die sicher geglaubten Grundfesten unseres Zusammenlebens: unsere Demokratie und unsere Verfassung, deren 75. Geburtstag wir gerade gefeiert haben. Ein Weiter-So kann es in dieser Lage nicht geben.

Doch was ist zu tun – und vor allem, wer sollte etwas tun?

Milieuübergreifende Institutionen wie Kirchen oder Gewerkschaften haben viel ihrer integrativen Bindungskräfte in der pluralistischen Gesellschaft eingebüßt. Die Parteienlandschaft zersplittert parallel immer weiter hin zur Wahrnehmung einzelner Gruppeninteressen. Umwelt- Klima- und Friedensbewegungen vertreten zwar theoretisch Interessen, die für das Überleben aller zentral sind. Gleichzeitig aber verlieren sie viel ihrer Anziehungskraft, da sie eben nicht inklusiv angelegt sind und viel Energie in Abgrenzungskonflikte investieren – oder weil es massive Kräfte in der Gesellschaft gibt, die sie mit großer medialer Unterstützung unter Nutzung von Fake News in „sozialen Medien“ diskreditieren, um eigene Macht- und Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Welche gesellschaftliche Kraft kann also unsere Gesellschaft noch zusammenzuhalten und zukunftsfähig aufstellen?

Wir ALLE sind also gefordert, unsere Lebensweise auf ihre Enkeltauglichkeit hin zu überprüfen und unsere Demokratie und ihre Institutionen aktiv zu verteidigen. Politik und die demokratischen Parteien brauchen unser Engagement ebenso wie unsere Medien (wo wir Leserbriefspalten und Netzwerke nicht der Vereinfachung und Spaltung überlassen sollten) und unser Alltag. Zivilgesellschaft sind wir alle – und das dürfen wir uns nicht nehmen lassen, egal ob im Sportverein, bei der Feuerwehr, in der Flüchtlingsinitiative oder der Naturschutzgruppe!

Gleichzeitig dürfen wir als Bürger*innen von den politisch Verantwortlichen erwarten, dass Entscheidungen nicht zum Erheischen kurzfristigen Applauses getroffen werden, sondern global gerechte Grundlagen für ein Leben in Würde und unser Überleben in den planetaren Grenzen im Blick haben. Von der Stadtverwaltung bis zu den Ministerien müssen unsere Institutionen ausstrahlen, dass sie bereit und fähig sind, auf die komplexen Fragen, vor denen wir stehen, menschenfreundliche Antworten zu finden (und dazu gehört dann auch, dass Busse und Züge zuverlässig fahren).

Für Ausreden wie „freie Fahrt für freie Bürger“ oder „Warum soll gerade ich das Klima retten?“ haben wir keine Zeit mehr!

Peter Meiwald ist Abteilungsleiter Afrika/Nahost beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor sowie ehrenamtlich als Vorsitzender der Europäischen Föderalisten Oldenburg e. V. aktiv. Als Abgeordneter war er zwei Jahrzehnte bis 2017 auf kommunaler und Bundesebene engagiert (Bd. 90/ Die Grünen). Seine Themen sind Energie, Entwicklung, Frieden.

27.07.24 03:27:15