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Vom Glück in einem freien Land zu leben

Ich kann mich glücklich schätzen, als Journalist in einem Land zu arbeiten, in dem die Presse- und Meinungsfreiheit seit mehr als 75 Jahren fest im Grundgesetz verankert ist. Und ich habe großen Respekt vor Kolleginnen und Kollegen, die dieses Glück nicht haben, die für eine freie, unabhängige und kritische Berichterstattung ihre berufliche Existenz, nicht selten auch ihre Freiheit und ihr Leben riskieren.
Als regionale Tageszeitung mit vielen Kanälen und großer Reichweite sind wir ein wichtiger Informationsträger im Nordwesten. Unsere Arbeit basiert auf Glaubwürdigkeit. Presse- und Meinungsfreiheit ist dafür eine zwingende Voraussetzung.
Kontroverse Meinungen sind dabei nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Demokratie funktioniert nicht im Konsens, sondern im Ringen um die besten Argumente, die am Ende zu einer Mehrheitsentscheidung führen.
Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Medienforschungsinstituts Media Tenor (veröffentlicht im Dezember 2023) zeigt allerdings, dass 44 Prozent der Deutschen das Gefühl haben, ihre politische Meinung nicht mehr frei äußern zu können. Nur noch 40 Prozent gehen davon aus, frei reden zu können. Diese Entwicklung zeigt seit 2015 eine dramatische Dynamik. Gleichzeitig sorgte der Verfassungsschutz voriges Jahr für Aufsehen mit seiner Forderung, „Sprech- und Denkmuster“ oberhalb der Strafbarkeitsgrenze ins Visier zu nehmen, die aus seiner Sicht das Staatswohl gefährden. Im aktuellen Koalitionsvertrag von Union und SPD, der neuen Bundesregierung,  wird auf Seite 123 der Umgang mit „Desinformation“ thematisiert. Lüge, Hass und Hetze seien nicht von Meinungsfreiheit gedeckt und sollen sanktioniert werden. Klingt erstmal gut und richtig. Doch wer entscheidet, was Lüge, Hass und Hetze ist? Da bleibt das Koalitionspapier vage.
All das sollte uns alarmieren. Doch es gibt nicht nur staatliche Tendenzen, die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken.

Alarmieren sollte uns auch, wenn versucht wird, Journalisten mit unliebsamer Meinung durch persönliche Angriffe zu diffamieren und einzuschüchtern oder gar gleich Berufsverbote zu fordern. Alarmieren sollte uns, wenn freie Medien als Lügenpresse diskreditiert werden.  Alarmieren sollte uns, wenn – wie zum Beispiel bei den Bauernprotesten geschehen – Druckhäuser blockiert werden, um die Auslieferung von Zeitungen zu verhindern. Alarmieren sollte uns, wenn Journalisten bei Demonstrationen bedrängt, bedroht und an ihrer Arbeit gehindert werden.
Die Grundsätze der Presse- und Meinungsfreiheit orientieren sich nicht an Haltungen. Für die Frage, wo die Grenze der Presse- und Meinungsfreiheit liegt, ist nicht die Regierung oder irgendeine moralische oder ideologische Instanz zuständig, sondern einzig und allein die unabhängige Justiz. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind dabei zu Recht sehr weit gefasst. Das gehört zum Wesen einer liberalen Demokratie.
Der Kampf um die Meinungs- und Deutungshoheit wird schärfer – auch befeuert durch die Funktionsweise der so genannten Sozialen Medien mit ihren Meinungsblasen.
Die gute Nachricht ist: Die Lauten sind nicht die Meisten: Viele Bürgerinnen und Bürger schätzen die offene Debatte und begrüßen es ausdrücklich, wenn sie mit Meinungen konfrontiert werden, die sie nicht teilen. Die
große Mehrheit der Menschen in Deutschland steht zu unseren Werten, zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese starke Demokratie wird auch Angriffen von rechts- und linksaußen widerstehen.
Aber wir dürfen unsere Demokratie und ihre Werte nicht für selbstverständlich halten. Wir müssen Meinungen aushalten, die uns nicht passen. Wir müssen dankbar sein für unser Privileg der Freiheit und täglich für sie einstehen – und damit auch für die Meinungs- und Pressefreiheit.

Ulrich Schönborn (56) mag die norddeutsche Gelassenheit und die Friesische Freiheit. Als Kind kam er aus Mainz an die Nordsee-Küste – und blieb. Seit 2020 ist er Chefredakteur der Nordwest Mediengruppe mit den Titeln Nordwest-Zeitung, Emder Zeitung, Anzeiger für Harlingerland und NWZonline.

15.06.25 08:03:59